Zeitgeschichtliches im Ecuador des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts
Zeitgeschichtliches und gesellschaftliche Entwicklung
Die Briefe von Bruder Johannes eröffnen interessante Einblicke in die zeitgeschichtliche und gesellschaftliche Entwicklung Ecuadors im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Im Kontext der Briefe sind dies keineswegs nur Randbemerkungen. Bruder Johannes will vielmehr seine Verwandten in der Heimat auch über aktuelle Geschehnisse informieren und von Bemerkenswertem schreiben. Dazu gehören Notizen zu politischen, sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen; letzteres mit besonderem Blick auf das vorausgesetzte heimatliche Interesse auf dem Gebiet der Landwirtschaft.
Angesichts umwälzender Fortschritte in vielen Bereichen, stellt Bruder Johannes fest, daß sich in der Landwirtschaft so gut wie nichts bewegt. »(Der) Feldbau ist ... immer noch im selben Zustand gebliebene«. Diese Vernachlässigung der Landwirtschaft erfüllt ihn mit großer Sorge. Zu gerne würde er auch hier seine Kenntnisse einbringen und seine Verbindungen zur schwäbischen Heimat für die Ecuadorianer benutzbar machen. Die Heimatgemeinde Dächingen könnte nach seinen Ideen, modern gesprochen, landwirtschaftliche Projekte im Gebiet um Cuenca unterstützen. »Wenn ich mehr Zeit hätte, so hätte ich Euch schon lange gebeten, uns einige Pflüge, wenigstens das Eisen dazu zu schicken, weil das Holz hier selbst gemacht werden könnte. Aber weil ich sehe, daß ich niemals Zeit finden werde, die Indianer ackern zu lernen, und auch, weil das Schicken für Euch etwas schwer sein würde, so habe ich immer darauf verzichtet, ungeachtet daß dieses für das ganze Land hier eine unbeschreibliche Wohltat wäre.«
Solche und ähnliche Gedanken kamen ihm wohl zumeist in der Erntezeit. Als verantwortlicher Wirtschafter der Klostergemeinschaft mußte er bisweilen in der Landwirtschaft mit anpacken. Noch heute erzählt man über ihn in Cuenca folgende Geschichte: »Während der Erntezeit kommt Bruder Johannes auf einem hoch aufgeschichteten Wagen vom Feld zurück zum Klostergebäude. Er sitzt ganz oben. Seine Mitbrüder lachen und rätseln, wie er wohl von dem hohen Wagen heil herunterkommen könne. Er erwiderte, daß es auf die gleiche Weise gehen müsse, wie er so hoch auf den Wagen gekommen sei. (Bruder Johannes hatte selbst den Erntewagen beladen; d.h. er hatte auf dem Wagen stehend das Erntegut bis zur nämlichen Höhe aufgeschichtet.) Darauf trug er Schicht um Schicht ab, bis er schließlich fertig und damit auch wieder unten war.»
Die Folgen rückständischer Landwirtschaft waren schon damals spürbar. Die Erträge waren spärlich und reichten gerade für das tägliche Brot. Vorräte für »magere Jahre« warfen Ackerboden und Arbeitsmethoden nicht ab. Ernteausfälle als Folge ungünstiger Witterungsverhältnisse, Naturkatastrophen oder Kriegseinwirkungen zogen sofort Hungersnöte nach sich. Immer wieder ist in den Briefen von Hungersnot die Rede; etwa 1882, als die Menschen zu hunderten den Hungertod starben, oder 1893, als »die Ernte des Jahres fast vollständig ausblieben« und 1894, als durch lang anhaltende Trockenheit mit nach- folgend starken Regengüssen die Früchte des Feldes verdarben.
Wissenschaft und Technik. Beschleunigter Fortschritt »Cuenca ist seit meinem Hiersein sehr vorangekommen in der Bauart und (in) verschiedenen Professionen.« Wir haben gesehen, daß Bruder Johannes an dieser Entwicklung nicht unwesentlichen Anteil hatte. Zahlreiche Brücken für zentrale Straßen- und Bahnverbindugen gehen auf seine Entwürfe zurück. Der Bau von Straßen und Eisenbahnlinien im unwegsamen Hochland Ecuadors ist im Gang. 1885 wird Cuenca an das nationale Telephonnetz angeschlossen. Im Dezember 1887 spricht sich Bruder Johannes lobend über die Regierung aus, die vieles für die Verbesserung des Landes tut. »Überall werden Wege gemacht, Eisenbahnen erbaut und auch der Telegraph geht schon im ganzen Land.«
Der Austausch wissenschaftlicher Erkenntnisse fördert gewiß die technische Entwicklung. 1890 übernehmen zwei Berliner Professoren Lehraufträge am Collegium National; mit ihnen nimmt Bruder Johannes Verbindung auf. »Schon zweimal haben sie mich besucht und auch ich einmal sie in ihrer Wohnung. ... Hier auf dem Äquator werden die Deutschen sehr geschätzt und die Nation als die gelehrteste angesehen.« Drei weitere deutsche Professoren kommen 1893 nach Cuenca. Bruder Johannes konstatiert. »Die Wissenschaft geht voran.«
Krankheiten, Volksseuchen und Naturkatastrophen
Von Hungersnot und von Erdbeben waren andernorts bereits die Rede. Die Region Ecuadors wurde zur Zeit von Bruder Johannes überdies mehrfach auch von Vulkanausbrüchen, epidemieartigen Krankheiten und Volksseuchen heimgesucht. Im Sommer des Jahres 1877 kam der Vulkan Cotopaxi zum Ausbruch. Sein Krachen und Tosen war bis in »das 80 Stunden entfernte Cuenca zu hören«. Es regnete schwarze Erde und »der Tag (wurde) in dichte Finsternis verwandelte. Die Um- gebung des Cotopaxi wurde mit »Wassermassen überschüttet, so daß zu tausenden von Menschen das Leben verloren.« In Todesangst bebend drängten unzählige Menschen zu den Kirchen.
Am 11.Januar 1886 brach der Vulkan Thungurahua bei Riobamba aus. Der Auswurf von Geröll und Asche war von solcher Heftigkeit und Intensität, »daß Flüsse wochenlang keinen Ausgang fanden.... Die ganze Umgebung von Cuenca war während zweier Monate in voller Finsternis und wir glaubten, der jüngste Tag komme«. In Cuenca zitterten die Häuser.
Das Leid in der Bevölkerung war groß. Obdachlosigkeit, fehlende medizinische Versorgung, Tod. Die Möglichkeiten, Grundregeln von Hygiene beachten zu können, waren angesichts der dürftigen Behausung auf dem Lande – Bruder Johannes spricht von »Grashütten« - äußerst gering. Krankheiten und Seuchen konnten sich ungehindert ausbreiten. Von den schwarzen Pocken, von Kolera und von Typhus ist bei Bruder Johannes zu lesen. Vom Ausmaß dieser Epidemien ist er betroffen; er selbst bleibt nicht verschont. Am Abend des 14. Novembers 1875 überkommt ihn starkes Fieber, zwei Tage später überziehen »eitrige Bläschen« den ganzen Körper, nach vier Tagen kann er kein Zeichen mehr geben: »Man rufte drei der besten Ärzte der Stadt, welche aber erkannten, daß es die schwarze Pockenkrankheit war, von welcher hier niemand mehr genöße.« In der Nacht vom 19./20. November verläßt ihn plötzlich das Fieber; Bruder Johannes war geheilt. Die Genesung von den »schwarzen Blattern« deutet Bruder Johannes als wundersame Rettung und besondere Gnade. 1885 berichtet Bruder Johannes über eine Koleraepidemie, die viele Menschen hinwegraffte. 1893 kommen zahlreiche Menschen durch Typhus zu Tode. Die Seuche fordert auch unter den Ordensangehörigen Opfer. einen 32-jährigen Pater pflegt Bruder Johannes bis zu dessen Tod.
Krieg, Bürgerkrieg und Revolution
Das Ecuador im letzten Viertel des 19.Jahrhunderts ist ein von Krieg, Bürgerkrieg und Revolution gezeichnetes Land. Die Jahre 1873/74, 1880/81, 1884/85, 1887-92 und ab 1895 sind relativ ruhig; die anderen Jahre sind von Unruhen und Aufständen gezeichnet.
Während seiner Zeit in Quito pflegt Bruder Johannes freundschaftliche Beziehungen mit dem katholischen Präsidenten García Moreno. Er ist betroffen, als der Präsident am 6. 8. 1875 auf dem Weg von der Kathedrale zum Präsidentenpalast einem Attentat zum Opfer fällt. Im Land breiten sich Unruhen aus. Sein Nachfolger, Antonio Borrero, ist ein Liberaler, aus Cuenca gebürtig. Er versucht das Land durch weitgehende Konzessionen wieder zur Ruhe zu bringen. Erst 1878 schreibt Bruder Johannes über die Wirren des Jahres 1875 und gibt seine kritische Einschätzung zum neuen politischen Kurs: Der neue Präsident »rief die ärgsten Revolutionäre, welche vom vorhergehenden Präsidenten verbannt waren in das Land zurück und gab ihnen die höchsten Stellen. Einen von ihnen, Veintemilla mit Namen, stellte er an als General-Kommandant in Guayaquil.« Am 8. September 1876 ließ sich dieser in Guayaquil zum Präsidenten ausrufen »und zog sogleich mit seinen Soldaten nach Quito. Sowohl in Quito, als auch hier in Cuenca suchte man alle Männer auf,...(die) Waffen tragen konnten (selbst Kinder).« Die Aufständischen siegten, verjagten den rechtmäßig gewählten Präsidenten und richteten eine Revolutionsregierung ein.
Die Revolutionäre bringen Kirchenleute, Ordensangehörige und Gläubige in arge Bedrängnis. Es kommt zur Aufkündigung des Konkordates mit Rom, zu Predigtverbot, zu Kirchenfrevel und Gotteslästerung, zu Verhaftung und Ermordung von Priestern und Bischöfen. Für Bruder Johannes ist »die Gesinnung der neuen Regierung dieselbe wie die der Commune de Paris«. Der Erzbischof von Quito, der in einem Hirtenbrief die Greueltaten der Revolutionäre anprangerte, wurde vergiftet: »Am 30. März, Karfreitag,... trank er (in der Liturgiefeier, d. Verf.) aus dem hl. Kelch mit dem zeitlichen Tod das ewige Leben, und fiel in derselben Stunde als Opfer dieser grausamen Revolution.« Der Bischof von Guayaquil starb ebenso durch Hände der Revolutionäre; den Bischöfen von Riobamba und Loja gelang die Flucht, Priester und Generalvikare wurden in die Verbannung geführt.
Im Sommer 1877 schlagen die Revolutionäre in Quito einen Volksaufstand blutig nieder. Als der Erzbischof den Wunsch Veintemillas versagt, den Sieg mit dem Geläut sämtlicher Kirchenglocken zu feiern, müssen er und weitere Priester in die Verbannung. Sein Stellvertreter spricht daraufhin für die ganze Stadt Quito das Verbot aus, eine Kirche zu öffnen, eine Glocke zu läuten, das hl. Meßopfer darzubringen.
Der Vulkanausbruch des Cotopaxi unterbricht das grausame Spiel der Revolutionäre.Nicht nur Vertreter der Amtskirche, sondern auch viele »kleinen Leute« hatten in den Revolutionswirren ein bitteres Los. Voll Sehnsucht erinnert man sich in jenen Tagen an die Regierungszeit des Präsidenten Borreo, in der jeder »sein Brot in Frieden essen (konnte), wo hingegen jetzt unser ganzes Land in ein Thränenthal verwandelt ist, denn wie traurig ist es zu sehen, wie der ehrenhafte Mann auch ohne Grund ... verfolgt, gefangen oder in die Verbannung geführt, andere in der Stadt oder in Höhlen verkrochen ihre Freiheit genießen; und so viele Familien, Müttern mit ihren Kindern, brot- und selbst oft dachlos, arm und verlassen ihr Schicksal beweinen, ohne zu reden von so vielen Mordthaten, Räuberei und Gewaltthaten ... welche sie an weiblichem Geschlechte ausüben.«
Eine relative Ruhe tritt unter der Regierungszeit von Veintemilla nur 1880/81 ein. 1882 gärt es erneut, bis es im November desselben Jahres zum offenen Bürgerkrieg kommt, der fast ein Jahr dauert. Der Güterverkehr bricht zusammen, das Land erscheint ausgehungert. Überall werden Männer und jugendliche zum Militärdienst eingezogen. Viele halten sich versteckt. Soldaten aus Guayaquil besetzen Cuenca, stehlen alles was zu finden ist, «selbst Kinder, zwar nicht zum essen, sondern zum verkaufen« In Cuenca herrscht unbeschreibliches Elend. Scharen von halbverhungerten Menschen liegen auf den Straßen und betteln auf den Knien um Brot. Niemand kann ihnen etwas geben. Am meisten leiden die alten Menschen und die Kinder, die sich ihren Lebensunterhalt nicht selbst suchen können. In der Stadt wird erzählt, daß draußen auf dem Land ganze Ortschaften ausgestorben seien. Die Belagerung von Cuenca dauert nur einige Tage, weil keine Partei die andere anzugreifen sich traut. Nach mehreren blutigen Kämpfen gelingt es den Aufständischen, den Diktator José Ignacio de Veintimilla zu ver- treiben, zunächst im Januar 1883 aus Quito und dann im Juli 1883 aus Guayaquil.
Unter der neuen liberalen Regierung besteht wieder Religionsfreiheit. Das Jahr 1884 wirkt wie ein Jahr der Erlösung. gute Ernte und niedrige Preise für Lebensmittel, keine Unruhen oder Aufstände, keine Epidemien, keine Naturkatastrophen, keine Verfolgung von Ordensangehörigen und Priestern. 1886 treten wieder Unruhen auf. Die Regierung hat die Lage offenbar im Griff; ein Versuch von Revolutionären, die Regierung zu stürzen, mißlingt. Bruder Johannes vermutet nicht zu Unrecht, daß durch den Ausbau des Telephonnetzes »die Revolutionen bedeutend verloren (haben).«
1893 steht Ecuador vor einem Krieg mit Peru. Peru beansprucht südlich gelegene Gebiete Ecuadors, in denen größere Erdölvorkommen und andere bedeutende Bodenschätze vermutet werden. Der Handel kommt zum Erliegen; der Straßenbau wird eingestellt, da öffentliche Gelder hierfür nicht mehr zur Verfügung stehen. 1894 nehmen Armut und Not derart überhand, daß der Kriegsausbruch unmöglich wird, obgleich Verhandlungen zwischen den Regierungen gescheitert waren. Die Verarmung des Landes führt in Ecuador zu Unruhen und Aufständen gegen die Regierung; im April erzwingen sie den Rücktritt des Präsidenten Corero Crespo. Dennoch währt der Bürgerkriegszustand bis zum vollständigen Sieg der Revolutionstruppen im September 1895. Mit Geschick gelingt dem neuen Präsidenten, Eloy Alforo Delgado, ein Kurs der Mitte; den extremen Forderungen von Revolutionären nach Ausweisung aller ausländischen Regierungsangestellten, Priestern und Ordensleuten kommt er nicht nach.
Eine politisch-gesellschaftliche Dimension der Botschaft Jesu, die heute in der katholischen Soziallehre und in den Theologien der Befreiung nicht mehr wegzudenken ist, war zu jener Zeit kein Thema kirchlicher Verkündigung. Mit viel Geschick und politischer Abstinenz gelang es den Redemptoristen, unter verschiedenen Regierungen ihre Eigenständigkeit zu wahren und einer Vertreibung zu entgehen. Zwei Monate vor Veröffentlichung des Epoche machenden Rundschreibens von Papst Leo XIII., der ersten Sozialenzyklika in der Geschichte der Kirche, schreibt Bruder Johannes vom Erfolg politischer Enthaltsamkeit. »Unsere Patres predigen den Armen das Evangelium und mischen sich niemals in die Politik und daher werden wir auch respektiert von den beiden Parteien, und haben noch niemals das geringste gelitten, Liberale und Konservatoren haben uns immer auf gleiche Weise begünstigt. Zu jeder Zeit sind alle, welche für uns arbeiten, sowohl vom Militärdienst, als auch von jedem Frondienst für die Regierung ausgenommen"
Post und Briefzustellung
Einmal erwähnt er die Nachteile für Briefeschreiber, da das Land nicht dem Postabkommen beigetreten ist. »Denn, vielgeliebteste Geschwister, Ihr müßt wissen, daß der Äquator keinen Postverein mit Europa hat, und somit alles, was man uns aus Europa schickt, freigemacht sein muß bis ans Land, aber hier im Land müssen wir es selbst bezahlen.« Offenbar fallen nicht nur für Pakete, sondern auch für Briefe, für jegliche postalische Sendungen, Zustellgebühren für den Empfänger an. Zur Höhe dieser Zustellgebühren für Briefe schreibt er nichts.
Die Briefe erreichen ihren Empfänger erst nach Monaten. In seiner Anschrift gibt Bruder Johannes ausdrücklich »via Hamburg« an; von dort wurden die Briefe aus der Heimat per Schiff weiterbefördert.